Hasta la vista querida Kurzgeschichte

Hasta la vista querida Kurzgeschichte

Später am Abend würde im Protokoll der Polizei stehen, dass Pia Cimander das Haus an diesem 17. November um 18 Uhr verlassen hatte, um mit ihrer Freundin Hilde einen Spanischkurs der Volkshochschule zu besuchen.“ Dass Harry, ihr Vater, ihr ein gutgelauntes „Tschüß mein Schatz“, hinterhergerufen hatte, würde keine Erwähnung finden. Auch nicht, dass Pia ihr Skateboard unter dem Arm gehabt hatte, mit dem sie eine gute halbe Stunde bis zur Schule brauchte. Draußen war es stürmisch und kalt und schon seit fast einer Stunde dunkel. Für den Abend war Regen angesagt. Deshalb hatte sie sich eine Regenjacke und ihren Regenschirm rausgelegt. „Typisch“, hatte Harry gedacht, als er später an der Garderobe vorbei gekommen war und gesehen hatte, dass beides noch unberührt da lag. Wenn es tatsächlich in Strömen regnen sollte, würde er zur Schule fahren und sie abholen.

In einem anderen Stadtteil der Kleinstadt in der Wetterau machte sich noch jemand bereit für den Spanischkurs. Er allerdings vergaß die Regenjacke und den Regenschirm nicht. Und auch nicht das Klebeband und nicht die dunkle Nylonstrumpfhose. Er war sehr übel gelaunt an diesem Abend. Es würde ihm schwer fallen zu tun, was er geplant hatte. Aber es musste sein. Es war ja auch nichts Schlimmes. Dieses Gör, das ihn mit ihren langen, blonden Haaren und den langen Beinen in den Wahnsinn trieb, hatte eine Lektion verdient. Sie war hochmütig – sie hatte über ihn gelacht. Sie würde es überall herum erzählen und ihn lächerlich machen. Sie und ihre hässliche, dicke Freundin. Sie hatte alle Chancen gehabt. Jetzt hatte sie es sich selbst zuzuschreiben. Es war das Spanischbuch und sein Schreibzeug, das er beinahe liegen gelassen hätte. – Aber nur beinahe eben. Manfred konnte sich auf sich selbst verlassen. Hoffentlich auch auf Kai, seinen neuen Freund. Vor drei Wochen, als er nachts um drei allein durch Altsachs, das Frankfurter Kneipenviertel, getigert war, war ihm sein überdimensionaler Körper praktisch vor die Füße geworfen worden. Blutig geschlagen. Kaum in der Lage aus den geschwollenen Augen zu blicken. Hatte ihn angefleht, ihn hier wegzuschaffen, bevor die Polizei käme. – Er sei auf Bewährung, hatte er erzählt. Und Manfred hatte ihn zu sich nach Hause gebracht, gepflegt – und sich all die Geschichten von Mord und Totschlag angehört. Dass er auf Bewährung frei war, wollte er ja noch glauben, aber die Geschichte von dem Mord? - Und dass er das Blut und das langsame Sterben seines Gegners, der ihn bis aufs Äußerste gereizt hatte, als wohligen Schauer erlebt hatte? – Egal – er nahm die Freundschaft dieses jungen Menschen, der doppelt so groß und schwer war, wie er selbst, wie ein unverdientes Geschenk in seiner Einsamkeit an, und freute sich auf Unterstützung für heute Abend.

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Pia traf sich mit Hilde immer ein halbe Stunde bevor der Kurs begann. Sie hockten auf einer Mauer vor der Schule und besprachen alles. Sie redeten beide praktisch pausenlos. Hauptsächlich über Jungs aus der Schule.

„Kuck mal“, ich hab die Karte mal mitgebracht“, sagte Pia und zog eine Ansichtskarte aus Spanien aus ihrer Umhängetasche. „Und da unten hat er das hingekritzelt: „Hasta la vista querida“ – Und weißt du, was Querida heißt? Das heißt Geliebte!“

Und während sie die Schrift noch einmal eingehend studierte, fügte sie hinzu:

„Der ist ja sowas von merkwürdig, der Typ. Eklig. Mit den fettigen, dünnen Haaren.“

„Ja, und wie der dich immer anguckt. Ich schwöre, mit dem kannst du machen was du willst. Wenn du ihm bisschen von deinem Ausschnitt zeigst.“

Und dafür war Pia genau richtig angezogen. Trotz der Kälte trug sie ein hautenges, kurzärmeliges T-Shirt mit tiefem V-Ausschnitt.“

Hilde warf einen Blick auf die Uhr – „Wir müssen los“, sagte sie. Und sprang von der Mauer. Pia musste etwas vorsichtiger sein. Sie trug eine schwarze Strumpfhose und darüber einen Minirock. Sie wollte sich keine Laufmasche an der Mauer holen.

Eineinhalb Stunden langweiligstes Spanisch lagen vor ihnen, bevor das Abenteuer wartete, auf das sie sich Woche für Woche freuten.

Als der Unterricht aus war, drückten die beiden sich noch eine Weile im Unterrichtsraum herum. Packten die Bücher in die Tasche, packten sie wieder aus. Behaupteten, sie passten nicht rein. Holten den Lippenstift raus, zogen umständlich die Lippen mit greller Farbe nach, überprüften im Taschenspiegel, ob alles in Ordnung war. Bis endlich der Letzte den Raum verlassen hatte. Sie gingen zur Treppe, ein Stockwerk tiefer und verschwanden im dunklen Gang. Hier warteten sie bis Senora Baraja-Entonces den Raum abgeschlossen hatte und mit ihren Absatzschuhen und deutlichem Klack-Klack die Treppe runter, im Erdgeschoss leiser werdend, bis zur Tür gegangen war, die dann mit einem lauten Schlag verkündete, dass sie nun allein seien. Jedenfalls glaubten sie das.

Geschafft. Nur noch eine schwache Notbeleuchtung wies ihnen den Weg. Eine Stunde hatten sie Zeit bis der Hausmeister seine letzte Runde machen würde und die Ausgangstüren abschließen würde.

Und los ging es ins Erdgeschoss! Hinter dem Lehrerzimmer führte links ein Gang in die Untiefen des Gebäudes. Eine Sackgasse, an deren Seiten die Türen zu den naturwissenschaftlichen Arbeitsräumen abzweigten. Ein Gang ohne Fenster, durch die Licht von draußen hätte einfallen können. Ein Gang, der so dunkel war, dass man tatsächlich gar nichts sah. Sie hatten es ausprobiert: Bei aller Anstrengung – war nicht zu erkennen, ob Pia Hilde eine Hand zwei Zentimeter vors Gesicht hielt oder nicht. Am Ende setzten sie sich auf den Fußboden und erzählten sich geheime Dinge. Das war seit ein paar Wochen zu einem regelmäßigen Ritual geworden. In der Dunkelheit ließ sich noch weitaus Intimeres austauschen als sonst. Beide ließen dienstags ihre Handys zu Hause, damit sie gar nicht die Möglichkeit hatten, hier Licht zu machen, damit niemand sie anrufen konnte oder lästige Nachrichten sie ablenken könnten. Das machte es noch ein wenig gruseliger. Sie erzählten von ihren geheimsten Träumen und Ängsten ins schwarze Nichts.

Was sie nicht wussten war, dass sie schon länger einen stillen Mithörer hatten, der sich die absolute Finsternis ebenfalls zunutze machte. Und der heute nicht alleine gekommen war.

Pia spürte die feuchte, warme Hand von Hilde in der ihren. Langsam, Schritt für Schritt tasteten sie sich vor, als rechneten sie jeden Moment damit, dass eine Mauer aus dem Nichts auftauchen könnte.

„Er hat mich die ganze Zeit angeguckt, hast du das gesehen?“, fragte Pia.

„Ja, klar. Das war doch nicht zu übersehen. Der hat überhaupt nicht zugehört. – Wusste keine Antwort. Poh, wie kann man so bescheuert sein?“

„Pscht, sei mal still, ich meine ich hätte grad was gehört.“

„Was willst du hören? Vielleicht ein Geräusch von der Heizung?“

„Nein, als ob da jemand hinter uns wäre.“

„Oh ja – das glaub ich auch. Vielleicht ist er das? – Vielleicht will er uns vergewaltigen?“

„Hör auf – das macht mir Angst.“

„Dafür sind wir doch hier, oder? – Bisschen Gruseln hat noch keinem geschadet.“

„Aber wenn er wirklich hier ist?“

„Dann treten wir ihm in die Eier. Da fallen die Männer um, hat mein Papa gesagt. Ich soll da keine Hemmungen haben, wenn mir mal ein Mann zu nahe kommt.“

„Da wieder – da ist jemand! Das war Kleidung, die raschelt ganz leise. – Verdammt – ich will jetzt weg. Mir reichts“.

„Hab dich nicht so. Bis zur Wand – und dann gehen wir zurück, ok? Ich hab nichts gehört.“

Tatsächlich standen Kai und Manfred am Anfang des Ganges. Einen einzigen Schritt hatten sie in den dunklen Gang getan. Manfred hatte die letzten Male, als er den beiden gefolgt war, immer hier gewartet. Keinen Schritt mehr hatte er in ihre Richtung getan. Jetzt spürte er die Enge des Ganges. Und die Wärme von Kais mächtigem Körper, der direkt hinter im stand. Sehen konnte er nichts. Und das war viel schlimmer als er es sich vorgestellt hatte. War das hier eine Grabkammer? Roch er Tod? Roch er Blut? Moder? Es zog ihm das Herz zusammen. Sein Mund wurde trocken. Die Stimme von Pia klang sehr weit weg. Sie klang eisern wie von draußen – und sie lachte hysterisch. „Er ist so lächerlich. – Ich bin sicher er ist da und er macht sich vor Angst in die Hose. – Soll er kommen. Ich habe etwas für ihn.“ Und dann wieder dieses hysterische Lachen.

Es war als könnte sie seine Angst riechen. Sie roch ihn und fühlte die winzigen Luftbewegungen seines Zitterns. Wie ein unsichtbares Band zwischen ihnen. Sie hielt sich an Hilde fest. Hatte sich an sie gedrückt und redete und redete – sie wusste nicht, ob in die Freiheit oder in ihr Ende hinein. Nur dieser Stillstand, das Warten, auf ein Zeichen – ein Wort eine klärende Bewegung oder Berührung war noch unerträglicher. – „Ich bin nicht ohne Schutz hier rein gegangen“, sagte sie jetzt. „Ich habe ein Messer hier. – Und ich weiß es zu benutzen.“

Am anderen Ende des Ganges schob Kai Manfred sanft vorwärts. Ihm machte das Dunkel nichts aus. Aber in Manfred kam eine Erinnerung hoch, die er fast dreißig Jahre erfolgreich unterdrückt hatte. Auch jetzt konnte man nicht wirklich von einer Erinnerung sprechen. Sein Körper allein war es, der die Situation wieder spürte. Eingesperrt in einem Keller. Schmerzen von Schlägen am ganzen Körper und die Angst für immer vergessen zu sein. Die Zeitlosigkeit – nicht zu wissen, ob Stunden oder Tage vergangen waren. Nichts mehr, um daran zu denken. Wände, die näher kommen. Geräusche von anderen Wesen oder Einbildungen in nächster Nähe. – Sein Denken war ausgeschaltet. Er wusste nicht mehr, warum er hier war. Er ließ sich von Kai schieben. Denn wenn er den Mund geöffnet hätte, wäre ein Schrei heraus gekommen. Er hatte nicht bedacht, dass er den ganzen Weg in den Gang gehen musste. Er war so auf Pia fixiert gewesen. Seine süße Beute.

Pia und Hilde waren still geworden. Die Schritte, die langsam näher kamen, ließen sich nicht mehr weg reden. Spannung und Angstschweiß lagen in der Luft. – Die ihnen fast wegblieb.

„Hast du echt ein Messer“, flüsterte Hilde so leise wie möglich.

Pia schüttelte fast unmerklich den Kopf.

Kai hatte inzwischen zu ahnen begonnen, was mit Manfred los war. Er hatte ihn zur Seite geschoben und die Führung übernommen. Um für seinen Freund zu erledigen, wovor er offensichtlich zurück schreckte.

Inzwischen war Harry losgefahren, um seine Tochter und ihre Freundin von der Schule abzuholen. Es goss wie aus Eimern. Selbst die zwei Meter bis zu seinem Auto reichten, um ihm das Gefühl zu geben, völlig durchnässt zu sein. Er fuhr durch die Dunkelheit. Das Radio laut aufgedreht. Kein Auto kam ihm entgegen. Die schmale Landstraße schien doppelt so lang wie sonst. Er konnte nur langsam fahren – die Scheibenwischer schafften es kaum, winzige Sichtfenster in den Regen zu schneiden.

Manfred atmete auf, als er etwas Luft von hinten spürte, und folgte nun Kai, der langsam aber unaufhaltsam vor ihm ging. Er setzte die Füße absichtlich laut auf, denn er war sich der Wirkung dieses unaufhaltsamen Näherkommens durchaus bewusst. –

„Wer ist da?“, frage Hilde jetzt. Sie musste etwas sagen, um zu hören, dass sie noch lebte. Ihre Laute katapultierten Manfred noch weiter zurück in die Vergangenheit. Ganz früher, da war er nicht alleine gewesen in der Kammer. Neben ihm hatte seine kleine Schwester gesessen. Sie konnte nicht sprechen. Vielleicht war sie zu sehr geschlagen worden und deshalb blöd geworden? Man wusste es nicht. Aber er rastete aus, wenn jemand sie anrührte. Deshalb bekam er das meiste ab. Und es war ein Wunder, dass er es überlebte. Zu zweit hatten sie da gesessen. Und er hatte ihre Hand in der seinen. Spürte ihren Atem und das Schlagen ihres kleinen Herzchens. Das hielt ihn zusammen.

„Na ihr beiden,“ sagte Kai jetzt. Er ließ seine tiefe Stimme noch etwas tiefer klingen. Und seine Hand lag auf der Schere in seiner Tasche. „Wisst ihr, was ich hier in der Hand habe?“ - Er machte eine Pause. Nur das Atmen war zu hören. Eine dumpfe Hoffnung nicht gefunden zu werden, ließ die beiden ganz klein in der Ecke zusammenschrumpfen. Eng aneinander gedrückt. „Es ist etwas zum Schneiden, soviel kann ich euch verraten. – Und was schneide ich damit wohl? – Vielleicht als erstes mal euch auseinander, hm?“ Er lachte. Er nahm nun das Klebeband aus der Tasche. Zog ein Stück auf und schnitt es ab. Klebte es an seine Jacke von außen, damit er schnell dran käme.

„So ihr Süßen, jetzt seid ihr gleich mein. Wer sich wehrt, wird verletzt, versteht ihr?“

Er hatte jetzt die Schere so in der Hand, dass er jederzeit damit zustechen konnte.

„Nimm das Messer“, sagte er zu Manfred. Der wie ein Roboter in seine Tasche griff und sein Küchenmesser herauszog. – Für alle Fälle hatte er es eingesteckt. Es war ein kleines kurzes Messer, denn Manfred wollte niemandem weh tun. Und er hasste Blut. Aber Kai hatte gesagt, es müsse sein. Nun war es in seiner Hand. Und er spürte Wut. Endlich einmal spürte er richtige, unbändige Wut auf das hysterische Lachen seiner Mutter, das wieder an sein Ohr drang. Sie hatte die Kleine geschlagen bis sie sich nicht mehr rührte, wenn sie nicht funktionierte. Und nie hatte er etwas dagegen tun können.

„Bitte lass uns gehen“, sagte Hilde flehend. „Wir haben doch niemandem was getan.“

„Doch“, sagte Kai – „ihr macht euch lustig – ihr lacht über jemanden, der ein guter Mensch ist. Ihr seid eingebildet und blöd zugleich.“ Und er griff mit der linken Hand in die Richtung der Stimme – die rechte mit der Schere erhoben.

Genau in dem Moment kam Harry an der Schule an. Alles war dunkel. Es regnete in Strömen. Unmöglich, dass die beiden sich auf den Weg gemacht hatten, dachte er. Sicher hatten sie sich untergestellt und warteten bis das Schlimmste vorbei war. Er fuhr langsam am Eingang vorbei. Niemand zu sehen. Er hupte. Nichts rührte sich. Das Gebäude war stockfinster. Außer dem überdachten Eingang gab es nichts, wo man Schutz vor dem Regen hätte finden können. Ein alter Fiat stand verlassen auf dem Parkplatz. Vielleicht hatte Hildes Bruder die beiden abgeholt? Blöd, dass sie ihr Handy vergessen hatte. Er drehte um und fuhr wieder nach Hause.

Kai hatte inzwischen Pia am Arm, die im Dunkeln gegen ihn trat.

„Es reicht, Kleine,“ sagte er und griff mit einer Hand nach ihrem Hals, die Schere war auf dem Boden gelandet. Mit beiden Händen drückte er zu. Ihre Stimme wurde schwächer, sie röchelte nur noch. Und Manfred, der unbewegt hinter ihm gestanden hatte, spürte, dass jetzt der Moment gekommen war, um etwas Richtiges zu tun. Er hob das Messer und stach auf Kai ein. Aufs Geratewohl ins Dunkel. Blut lief – kein Schrei nur ein Stöhnen. Und Pia, die wieder atmete. Atmete, wie seine Kleine damals. Immer noch war nichts zu sehen. Aber warmes Blut verband alle vier. Manfred griff in seine Tasche und knipste die Taschenlampe an. Entsetztes Schweigen in schreckgeweiteten Augen - stockender Atem. Manfred stieg über Kai, der ohnmächtig am Boden lag, ohne ihn zu beachten und nahm Pia in den Arm, die es geschehen ließ.

„Wir müssen Hilfe holen.“ Hilde war die einzige, die Kai ansah. Manfred rührte sich nicht. Pia weinte leise. „Hast du ein Handy?“, fragte Hilde. Er nahm es aus der Tasche, entsperrte es und reichte es ihr. Dann strich er mit der Hand zart über Pias Kopf. Und sie weinte und weinte – und spürte durch die Tränen, seine Schutzlosigkeit, seine Herzensgüte, seine Angst und begann ihn zu lieben wie einen großen Bruder.

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