Heute nicht - Kurzgeschichte

Heute nicht - Kurzgeschichte

„Deine Ängste, deine Ängste,“ hatte er ihr immer wieder gesagt, „deine Ängste werden noch einmal alles zerstören.“

„Sprich heute nicht davon“, sagte sie.

„Ich habe schon sonst immer genug damit zu tun.“


Wie immer lag sein Hut auf dem weißen Parkettfußboden auf der Veranda. Es war ein Zeichen. Ein Zeichen dafür, dass alles in Ordnung war.

Alles in Ordnung, alles wie immer.

Absurd so zu denken. In einem Zustand, in dem nichts in Ordnung war, von Ordnung zu reden. Ihrer beider Welt zerfiel vor ihren Augen. Etwas Neues wuchs, war aber noch nicht greifbar. Sollte man da keine Angst haben?

Er war alt. Aber er war immer noch sehr erfolgreich.

Er hatte sie entdeckt. Bei einem Kongress.

Sie war einen langen Gang entlanggegangen auf der Suche nach Raum 217.

Ein Schal lag auf dem Boden.

Tische standen an der Wand.

Sie war in Gedanken ganz woanders gewesen, hatte gedankenverloren den Schal aufgehoben, sich über das satte Rot der Rosen auf lachsfarbenem Hintergrund gefreut. Hatte die zarte schmeichelnde Seide auf der Hut gefühlt.

Ihn sah sie erst, als sie direkt vor ihm stand und ihm das Tuch fast auf den Schoß gelegt hätte.

Er saß da auf dem Tisch, als wäre er eben aus dem Nichts aufgetaucht.

„Das war wunderbar“, sagte er. „Eine solche Anmut habe ich noch nicht gesehen.“

Er war wirklich schon alt.

Aber seine Augen waren so klar und scharf – wie ein liebevolles zärtliches Messer, falls es so etwas gibt.

„Ich möchte mit Ihnen arbeiten."


„Ich möchte mit Ihnen arbeiten“, sagte er, „Jetzt sofort am besten.“

Sie war verunsichert. Genauer gesagt, sehr verwirrt. Sie kannte diesen Mann nicht und er wusste doch alles von ihr, so schien es. Sie konnte von seinem Blick nicht lassen.

„Gehen wir doch“, sagte er.

„Du wirst doch vor so einem Greis keine Angst haben“, sagte sie zu sich selbst. „Du bist jung und stark, was gibt es zu verlieren?“

Nun, es gab da schon etwas. Daran dachte sie aber gerade nicht. Es war ihr entfallen, dass sie Familie hatte und all das. Kann vorkommen.

Als er sich am Empfang abmeldete, hörte sie seinen Namen. Bestimmt die Hälfte der Leute, waren nur wegen ihm da, soviel stand fest. Und er ging einfach.

Sie gingen in dieses verlassene Ferienhaus, wo sie sich von da an täglich trafen.

Und er arbeitete mit ihr.

Er sah sie an und sprach mit ihr. Dabei fotografierte er sie. Mal nackt, mal angezogen.

Hinterher sprachen sie über die Fotos. Sie sprachen über Haltungen – über Äußeres und Inneres und wie das eine das andere verändert.

Alles andere zerfiel

Dem aufmerksamen Gegenüber entging nicht die leiseste Regung ihrs Gesichts. Sein Facettenauge fand immer neue Facetten in ihr, falls es so etwas gibt. Und seine Kamera hielt sie fest. – Sie wurden Wirklichkeit und waren dann auch in ihr wirklich. Wo sie aber vorher gewesen waren, wusste sie auch nicht.

Sie wusste nur eins: Sie lebte nur noch auf diese Stunden hin.

Alles andere zerfiel. Es störte sie nicht.

Dabei wuchs auch ihre Angst. Ich erwähnte es bereits.

Es war ein Tag im Mai, als sie etwas später kam. Sie wusste, er war schon seit dem frühen Morgen da und arbeitete an ihrem Bildband. Es sollte etwas ganz besonderes werden. Sie trat auf die Veranda. Dort lag kein Hut. War er da? Irgendetwas war anders als sonst.

Da lag ein Zettel.

„Heute nicht“ stand darauf.

Da wusste sie, dass sie nicht umsonst Angst gehabt hatte. Jetzt stand sie vor einem absoluten Nichts.

Sie drehte sich um und ging nach Hause. Setzte sich ans Fenster und hörte und sah nicht.

Im Ferienhaus lag ein alter Mann und starb.

Ein Schlaganfall hatte ihn mitten in der Arbeit getroffen. Er hatte Bildunterschriften ausprobiert. Eine davon hatte der Wind auf die Veranda geweht.


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