Eine Winterreise

Eine Winterreise


„Fremd bin ich eingezogen – fremd zieh ich wieder aus.“

Der Schnee knirscht unter meinen Füßen. Keiner da – keiner, der den Frieden stört. Blauer Himmel, wolkenlos. Zugefroren der See. Ich löse meine Schnürsenkel, streife die Schuhe von meinen Füßen und lasse sie in die weißen Schlittschuhe gleiten. Die ersten Schritte auf dem Eis. Verschneite Kiefern und Fichten im Blick, mein Atem, der vor mir aufsteigt. Die Schlittschuhe gleiten wie von allein über das Eis. „Barfuss auf dem Eise, wankt er hin und her.“ Schuberts Winterreise. Lange, sanfte Kurven. Dann mutiger, schneller gleiten, rückwärts, vorwärts, ein Sprung. Die Sonne fällt glitzernd auf den Schnee. „Fällt der Schnee mir ins Gesicht, schüttle ich ihn herunter.“ Ich lache. Eins werden mit Eis und Schnee, blauem Himmel und Schnee – Eiskönigin – Schneekönigin sein. Schuberts Winterreise – ganz in weiß.

Ganz in Weiß – das Zimmer der Intensivstation. Schläuche an meinen Armen, Infusionen, mehrere, die sie in mich hineinjagen. Ein Monitor. Ein Piepen. Mein Arm – wo ist er? Ich spüre ihn nicht. Meine Hand – sie liegt da. Ich kann sie nicht heben. Weiße Laken, weiße Wände, weiße Kittel. Schwestern, Ärzte. Wo bin ich? Wie bin ich hierher gekommen?

„Auf einen Totenacker hat mich mein Weg gebracht.“ Schuberts Winterreise. Der See. Die weißen Wände. Weiß. Weiß. Weiß. Mein Arm, nein, nicht meinen Arm! Wieso bewegt er sich nicht, wenn ich will. Versuchen, versuchen. Kämpfen. Nicht aufgeben. Der Arm. Wieso kommt keiner. Der Doktor! Hallo Schwester! Keiner. Mein Arm. Der See. Der Fall. Der Schmerz. Erinnerung in weißen Schemen, Fäden. Ich brauche meinen Arm. Es ist der Rechte. Nicht abnehmen. Gott, lass mir meinen Arm! Ein Krüppel mit 35! Nein.

„Gefrorne Tränen fallen von meinen Wangen ab.“ Schubert, immer wieder Schubert. 31 ist er geworden. Meine Tränen fließen heiß. Bitte, bitte nicht!

Sie haben dreieinhalb Stunden operiert, sagt der Arzt. Neun Schrauben und drei Platten, aber den Ellbogen konnten sie retten. Die Schwester lächelt mich an. Ein bisschen mitleidig – ein bisschen Mut machend. Mein Atem wird ruhiger. Ruhe – Ruhe. Am Fenster Schneeflocken, dichter. Es werden lange Wintertage werden. Mit Schubert und der Schneekönigin. Die Schlittschuhe bleiben an der Wand. Ich streichle mit der Linken meinen rechten Arm, den verletzten, verletzlichen, so kostbaren Geliebten.

„Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus.“ Eine Winterreise.


Birgit Reibel

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